Von Wolf Tekook, 2010
Freiheit in der Kunst
Am 19. Februar 2010 trafen sich in der Helmspark- Galerie in Seevetal Philosophie- und Kunstbegeisterte zum ersten diesjährigen Helmspark- Gespräch. Nach einleitenden Referaten des Theologen Egge de Wall zum Thema Freiheit in der Religion und DAP- Mitglied Dr. Wolf Tekook zu Freiheit in der Kunst wurde intensiv diskutiert. Nachfolgend das Referat von Dr. Wolf Tekook.
Die Welt der Kunst wird von Außenstehenden oft als ein Reservat der Freiheit angesehen. Kreative Freude anstelle von geregeltem Acht- Stunden- Job, das ungehemmte Verwirklichen von Ideen, das (farbenfrohe) Ausleben von Gefühlen:
Die aktive Beschäftigung mit der Kunst erscheint denen, die von außen in diese Welt hineinlugen, als eine sehr begehrenswerte Lebensform.
Doch wie sieht es mit dieser Freiheit aus?
Konnte und kann der Künstler wirklich in Freiheit seinen Intuitionen nachgehen? Oder ist auch er eingebunden in die vielfältigen Zwänge eines sozialen Miteinanders?
Lassen sie uns dies untersuchen!
Der Begriff Freiheit
Bevor wir über den Spezialfall der Freiheit in der Kunst reden, sollten wir versuchen zu definieren, was Freiheit ist. Der Philosoph Immanuel Kant unterschied zwischen negativer und positiver Freiheit. Nach dem kantschen Freiheitsbegriff ist Freiheit nur durch Vernunft möglich. Ohne Vernunft folgt der Mensch einem Tier gleich seinen Trieben. Kraft der Vernunft aber ist der Mensch in der Lage, das Gute zu erkennen und sein eigenes Verhalten dementsprechend pflichtgemäß auszurichten. Da nach Kant nur der sich bewusst pflichtgemäß, also moralisch verhaltende Mensch frei ist, sind „freies Handeln“ und „moralisches Handeln“ bei Kant ebenso Synonyme wie der freie Wille und der gute Wille.
Im 20. Jahrhundert hat der britisch- jüdische Philosoph mit russischen Wurzeln – er wurde im damals russischen Riga geboren – Isaiah Berlin diesen Kantschen Gedanken weiter präzisiert:
Negative Freiheit (Freiheit von) bezeichnet einen Zustand, in dem keine von anderen Menschen ausgehenden Zwänge ein Verhalten erschweren oder verhindern.
Positive Freiheit (Freiheit zu) bezeichnet einen Zustand, in dem die Möglichkeit der passiven Freiheit auch tatsächlich genutzt werden kann oder nach noch weitergehender Auffassung einen Zustand, in dem die Möglichkeit tatsächlich genutzt wird.
Ein Beispiel für negative Freiheit ist, wenn jemand seine Meinung frei äußern darf, ohne dass die entsprechende Person von anderen beispielsweise durch Zensur gehindert wird. Positive Freiheit bedeutet in diesem Beispiel, dass auch die Kommunikationsmittel und der Zugang zu den Medien zur Verfügung stehen oder nach weitergehender Auffassung, dass die jeweilige Meinung auch tatsächlich geäußert wird.
Historisch betrachtet war Freiheit in der Antike und auch im Mittelalter das Privileg der oberen Schichten und der Gebildeten. Sklaven und besiegte Völker hatten keinen Anteil an der Freiheit. Lediglich die Philosophenschule Stoa definierte eine allgemeine Freiheit – eine Freiheit von den Zwängen der Welt. Dies galt bei ihnen allerdings nicht für politische Konstellationen, sondern war nur individuell auf den Einzelnen bezogen.
Frühe Ansätze eines allgemeinen Freiheitsbegriffs finden sich bei dem Volk Israel, das im Pessachfest an die Befreiung der Juden von ägyptischer Herrschaft erinnert. In der jüdischen Tradition ist die Freiheit ein politisches Grundrecht für das Volk Israel.
Das junge Christentum übernahm sowohl die Freiheitsideen für den Einzelnen, wie sie die Stoa definiert hatte, als auch die Gedanken der politischen Freiheit einer Gemeinschaft nach den Ideen der Juden. Nachdem Christus auferstanden war, ging es (bei Paulus) um die Freiheit des Einzelnen im stoischen Sinne; der Christ sei im religiösen Sinne frei von Gesetz, Sünde und Tod (Römerbrief, Kapitel 6–8). Oder im Galater- Brief: „Für die Freiheit hat uns Christus befreit, darum … lasst euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen“ (Gal 5,1).
Der heutige Freiheitsbegriff entwickelte sich in der Aufklärung. John Locke postulierte Leben, Freiheit und Eigentum als unveräußerliche Rechte des Bürgers. Bei Voltaire findet man: „Ich bin nicht Eurer Meinung, aber ich werde darum kämpfen, dass Ihr Euch ausdrücken könnt.“
In der Gegenwart genießen Bürger besonders in den westlichen Gesellschaften ein verfassungsmäßig garantiertes Mindestmaß an Freiheit (Bürgerrechte, Menschenrechte, Allgemeine Handlungsfreiheit).
Freiheit in der Kunst
Die Entwicklung des Freiheitsgedankens in der Kunst folgt weitgehend der übrigen historischen Entwicklung. Gehen wir zurück ins Altertum, so ist hier zunächst die sehr rigide Haltung Platons zu betrachten: Für Platon war es der Seinsgehalt einer Sache, die ihren Wert bestimmte. Er unterschied zwischen zwei Arten von Künstlern:
Jenen, die schöpferisch etwas herstellten wie die Baumeister, Tischler und Wagenbauer
Solchen, die sich auf die Nachahmung (μιμεσισ) des Bestehenden beschränkten wie die Maler, Bildhauer oder Dichter.
Die erste Gruppe stand der Wahrheit nach Platons Meinung näher als die zweite. Die Nachahmer schaffen nicht aus einer Idee eine Realität, sondern sie betrachten die Realität und ahmen sie nach. Ein Architekt macht aus der Idee des Hauses einen bewohnbaren Raum, der Maler, der ein Haus malt, schafft nur ein Bild zweiter Ordnung, das Abbild eines Bildes und ist somit minderwertiger.
Platons Schüler Aristoteles sah zwar in der Kunst auch die Darstellung oder Nachahmung, doch er sah diesen Schaffensprozess positiv, billigte dem entstandenen Kunstwerk ein eigenes Sein zu. Somit hielt er es auch nicht für verwerflich, wenn sich der Künstler bei seiner Darstellung der Realität die Freiheit herausnimmt, Akzente zu setzen, Muster zu erkennen und Wesentliches heraus zu arbeiten. Selbst die Abbildung von Dingen, die es in der Realität nicht gibt, wurden von ihm akzeptiert, wenn er durch diese Unrichtigkeit die erstrebte Wirkung leichter erzielen konnte. Nicht der innere Wahrheitsgehalt eines Kunstwerkes war Aristoteles wichtig, sondern seine Wirkung auf den Betrachter.
Im (christlichen) Mittelalter hatte die Kunst nur eine Aufgabe: Die Schönheit der göttlichen Schöpfung abzubilden. Eine besondere Rolle spielte hierbei das Licht: „Und vollends, welche Worte möchte finden, wer versuchen wollte, das Wesen an sich eines Sonnenstrahls zu beschreiben! Denn das Licht stammt vom Guten und ist ein Bild der Güte. Und so wird das Gute auch mit dem Namen ‚Licht‘ gepriesen.“ So beschrieb ein unbekannter Autor aus dem 5. Jahrhundert – er wird heute unter Pseudo- Dionysius Aeropagita katalogisiert – die ästhetischen Prinzipien des Mittelalters. Die Kunst dieser Zeit versuchte, dieses Licht einzufangen und darzustellen. Ihre Aufgabe war es, die Gestalten und Begebenheiten der irdischen Welt als Chiffren des Göttlichen lesbar zu machen. Von Freiheit der Kunst konnte man in diesem Zusammenhang kaum sprechen. Die (meist anonym bleibenden) Künstler fertigten ihre Arbeiten nach den Vorgaben der kirchlichen Auftraggeber. Als sich ein weltlicher Adel etablierte, imitierten die Angehörigen dieses Standes den Prunk und die Gebräuche der Kirche.
In der Renaissance befreiten sich Kunst und Künstler vom Gängelband der Religion. Das ganze Spektrum natürlicher Erscheinungen und deren getreue Abbildung war das beherrschende Thema. Licht, Schatten, die unendlichen Varianten der Farben und die Perspektive wurden studiert und dargestellt. Leonardo da Vinci formulierte, dass allein die Erfahrung, und zwar die sinnliche Erfahrung, der Kunst als Lehrmeisterin dienen dürfe. So verwundert nicht, dass die Künstler dieser Zeit auch versuchten, die den Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetze zu erschließen; denn nur, wenn man das Wesen eines Gegenstandes kennt, kann man ihn auch darstellen.
Die Zeit der Aufklärung besann sich wieder stärker auf die Postulate der Antike. Kant beschäftigte sich mit dem Unterschied zwischen gut – eine objektive Wertung, die sich auch an der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes oder einer Handlung orientiert – und angenehm – nach seinem Postulat durch eine bloße Reizung der Sinne entstanden. Friedrich Schiller unterschied einen sinnlichen oder Stofftrieb, der immer neue Erfahrungszustände anstrebt, und einen Formtrieb, dem es um die Einheit der Gestalt geht. Im Idealfall sollten diese beiden Triebe sich nie gegenseitig beeinflussen, sodass „die Welt in ihrer ganzen sinnlichen Fülle aufgenommen werden kann, ohne dass sich dabei die Persönlichkeit als formende Kraft gleichsam an die Welt verliert. Ein Höchstmaß von Freiheit paart sich so mit einem Höchstmaß an Dasein“, und in eben dieser Verbindung käme die Idee der Menschheit zur Wirklichkeit.
Das 19. Jahrhundert brachte mit der Erfindung der Fotografie (1826 fertigte Joseph Nicéphore Nièpce das erste Foto an) eine entscheidende Veränderung. Bis dahin war eine der Hauptaufgaben der bildenden Kunst die Konservierung eines optischen Eindruckes von einer Person oder einem Gegenstand für die Nachwelt. Dies konnte nun die Fotografie mit weit höherer Genauigkeit. Als Folge dieser Entwicklung verließen die Maler und Bildhauer den Bereich der Dokumentation. Bis dahin war künstlerische Arbeit meist Auftragsarbeit – die Gestaltung nach den Wünschen eines Auftragsgebers. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich die heute bekannte freie künstlerische Arbeit – von Ausnahmen wie Breughel oder Hieronymus Bosch abgesehen.
Ein Paul Gauguin, der über Jahre in die Südsee entschwindet, dort seine Motive findet und malt, und der dann nach Paris zurückkehrt, um die Bilder auf einer von Künstlern organisierten Ausstellung zu präsentieren, wäre in früheren Zeit nicht möglich gewesen. Die Impressionisten suchen wie die mittelalterlichen Maler nach dem Licht – nun aber nicht mehr, um göttliche Allmacht darzustellen, sondern um dieses Phänomen frei zu ergründen. Der Expressionismus löst die Formen auf, im Kubismus wird mit der Möglichkeit, komplizierte Formen auf einfache mathematische Gebilde zurückzuführen, experimentiert. Ein Pablo Picasso nimmt sich die Freiheit, ein Gesicht sowohl frontal als auch von der Seite abzubilden – in einem Bild.
Die Surrealisten berufen sich teils auf den damals in Mode kommenden Sigmund Freud, sie stellen Träume dar, nutzen ihre Kunst aber auch zur politischen Aussage, teils als Aufforderung zum Chaos: „Die einfachste surrealistische Tat“, so hatte Breton 1930 im Zweiten Surrealistischen Manifest erklärt, „besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen.“
Im abstrakten Expressionismus zum Beispiel eines Jackson Pollock dominierte die Emotion als einzige Triebfeder, wenn er – die Kunsthistoriker ordnen dies heute als Drip Art ein – auf quadrametergroßen Leinwänden die Farbe aus Tuben und Eimern auf den Untergrund laufen ließ.
Die Pop Art erhob ab den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Ikonen der Konsumwelt zur Kunst. Andy Warhols Siebdrucke von Suppendosen oder Schauspielerporträts schafften es mit ihrer Einfachheit und dem Wiedererkennungswert, die Kunst, die lange Zeit nur noch in Museen und Galerien stattfand, wieder zurück in die Wohnungen der Normalsterblichen zu holen.
Jeff Koons provoziert mit seinen im Zuckerbäckerstil erschaffenen glasierten Skulpturen, die im starken Gegensatz zur süßlichen Darstellungsart mit harten Inhalten aus der Welt der Pornographie glänzen. Damien Hirst schafft es mit einem in Formalin eingelegten Hai in die Museen des britischen Königreiches.
Und die Fotografie: Nachdem sie zunächst als Möglichkeit zur perfekten Dokumentation des real Existierenden gefeiert wurde, entdeckten schon bald die besten Fotografen die dieser Technik innewohnenden Möglichkeiten: In der Dunkelkammer wurden dunkle Bildanteile nachbelichtet, um die Fotos noch kontrastreicher erschienen zu lassen. Verschwanden Details, holte man sie mit der Technik des Abwedelns wieder zurück.
Man Ray, der amerikanische Fotograf, veränderte die fotografierte Wirklichkeit scheinbar mühelos, um die beabsichtigte Aussage zu erzielen. Seine Fotogramme, bei denen er Gegenstände in der Dunkelkammer direkt auf Filmfolien legt und belichtete, bezaubern noch heute durch ihren filigranen Reiz. Er ließ sich aus Glas Tränen anfertigen, die er seinen Modellen ins Gesicht klebte. Sein Rückenakt Le Violon d’Ingres aus dem Jahre 1924, bei der er einer Schönen Schalllöcher auf den Rücken projizierte, entzückt noch heute die Posterkäufer.
Seit die digitale Fotografie und die Bildbearbeitung am Computer ihren Siegeszug antraten, sind alle Begrenzungen der Fotografie aufgehoben: Bilder werden am Bildschirm übereinandergelegt, verzerrt, verschmolzen, übermalt und im Patchwork- Stil mit neuen Inhalten gefüllt. Die Grenzen setzt nur noch die Fantasie des Künstlers.
Also herrscht (zumindest heute) grenzenlose Freiheit in der Kunst?
Die Ergebnisse kunsthistorischer Forschung der neueren Zeit lassen einen doch nachdenklich werden. Auf die historisch bekannten Einschränkungen der Kunst – von Bücherverbrennungen bis hin zur Ausstellung „Entartete Kunst“ im Juli 1937 in den Münchner Hofgarten- Arkaden will ich nicht eingehen; sie sind sattsam bekannt und analysiert. Interessant vielleicht am Rande: Zu der Ausstellung im Hofgarten kamen über 2 Millionen Besucher; in die parallel dazu im Haus der Deutschen Kunst mit dem Thema „Große Deutsche Kunstausstellung“ gestartete Schau „rassenreiner“ Kunst zog es nur 420.000 Kunstfreunde.
In den letzten 10 Jahren wurde bekannt, dass in der westlichen Welt die Regel- und Zügellosigkeit aktueller Kunstrichtungen gezielt gefördert wurde – und zwar als staatlich geplantes und organisiertes Gegengewicht zum sozialistischen Realismus der Ostblock- Künstler. Mit der Auswahl bestimmter Künstler für Ausstellungen in Museen, mit dem gezielten Ankauf „genehmer“ Kunst für den öffentlichen Bereich konnten und können staatliche Institutionen Einfluss auf die Bekanntheit und den Marktwert von Kunst und Künstlern nehmen. Selbst, dass der CIA bestimmte Rezensionen in Kunstmagazinen förderte, ist aus der Zeit des Kalten Krieges bekannt.
Auch die Manipulationsmöglichkeiten einer fotografischen Aufnahme wurden immer schon für politische Zwecke genutzt: Nachdem Trotzki den Machtkampf gegen Stalin verloren hatte, tilgten geschickte Retuscheure mit Eiweißlasurfarben sein Konterfei aus allen existierenden Fotos. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Das Foto eines Raketentests im Iran aus dem Jahre 2008 wurde digital geschönt: Da eine von drei Raketen im Vordergrund des von vielen Zeitungen abgedruckten Bildes nicht gezündet hatte, kopierten die Iraner kurzerhand an die Stelle des Versagers eine startende Rakete.
Und so relativiert sich der Begriff der Freiheit in der Kunst: Sicher steht es heute jedem Künstler frei, sich auf die ihm gemäße Art auszudrücken und zu verwirklichen. Doch Erfolg wird nur der haben, dessen Spektrum und Aussage mit den Wünschen der finanziell gut gepolsterten Entscheidungsträger übereinstimmt – der Sozialdarwinismus macht auch vor der Kunst nicht halt.
(Dr. Wolf Tekook, Jahrgang 1951, beschäftigt sich neben seiner medizinischen Arbeit seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Fotografie und digitaler Bildbearbeitung.